Zürich auf dem Weg zur Musical-Stadt?
Zürich liebt Musicals. Das zeigt der aktuelle Erfolg von Billy Elliot in der MAAG-Halle. Doch trotz ausverkauften Sälen bleibt Musical in der Stadt strukturell schwach: Es fehlt an Förderung, an professionellen Ausbildungsmöglichkeiten und an Perspektiven für den Nachwuchs. Doch was fehlt Zürich noch, um zur echten Musical-Stadt zu werden? Und warum flüchten Talente so oft ins Ausland?
Autorin: Dana Maracchioni
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Wenn in der MAAG-Halle die Lichter ausgehen, die Musik von Elton John einsetzt und eine Gruppe Bergarbeiter das Theater mit ihren Stirnlampen durchschneiden, entsteht ein Gänsehaut-Moment. Wenige Sekunden später bringt das Ensemble das ganze Theater zum Beben, und für einen Augenblick fühlt sich Zürich an wie der Broadway. Wenn Billy Elliot in der MAAG Halle tanzt, wirkt es mühelos.
Das Publikum jubelt, die Kritiker sind begeistert. Die Produktion wurde verlängert. Bis zum Ende der Spielzeit werden bis zu 100’000 Zuschauer:innen erwartet. Alles spricht für Erfolg. Doch ist das nur eine Ausnahme?
Hinter dem Glanz kämpfen die Beteiligten um jeden Schritt: 180 Menschen arbeiten allein für Billy Elliot – von Darstellenden und Techniker:innen, über Maskenbildner:innen bis zu Kinder-Coaches. Die rund 40 Kinderdarsteller:innen erleben eine einmalige Chance für ihre potenzielle Musical-Karriere.
Isabelle Flachsmann steht seit über 30 Jahren auf Bühnen. Tyler hat gerade erst begonnen.
Zwei Perspektiven. Zwei Generationen. Eine Realität.
Volle Säle, fehlende Förderung
Die Begeisterung fürs Musical ist in Zürich unübersehbar: Billy Elliot füllt über Monate hinweg die MAAG Halle. Tourshows wie Book of Mormon oder Pretty Woman kommen ins Theater 11, manche wie Cats oder Rocky Horror Picture Show kehren immer wieder zurück, weil sie sich zuverlässig verkaufen.
Doch was auf der Bühne glänzt, steht auf wackligem Untergrund, denn die Kulturförderung bleibt aus. Zwar erhalten einzelne Theater staatliche Unterstützung, aber Musical wird oft beiseite geschoben. Weder die MAAG Halle noch das Theater 11 werden subventioniert. Auch Laien-Produktionen stellen jährlich vergeblich Anträge für Fördergelder. «Sie begründen es damit, dass Musical wohl zu kommerziell ist. Aber im Opernhaus zahlt man ja auch Eintritt», sagt Shyrleen Mueller, Projektleiterin von Billy Elliot.
Die wirtschaftliche Unsicherheit prägt auch die Arbeitsbedingungen. Wer in Zürich Musical macht, arbeitet projektweise, oft unter hohem Druck. Es gibt kein Ensemble, das sich entwickeln kann. Keine langfristige Struktur. Jede Produktion beginnt bei null: neues Team, neue Finanzierung, neues Risiko.
Zwar sind auch in Hamburg und London die meisten Theater privat finanziert. Doch dort gibt es eine jahrzehntelange Musical-Kultur, die Strukturen geschaffen hat: Ausbildungswege, Förderprogramme, feste Häuser. In Zürich fehlt genau das.
Valerie Arias, Musical-Gesangslehrerin, bringt es auf den Punkt: «Die Szene ist nicht tot – sie war einfach nie richtig da.»

Ausbildung? Fehlanzeige
Am härtesten trifft es die Nachwuchstalente. Wer Musical professionell lernen will, muss fast immer ins Ausland. Denn Musicalausbildung ist hierzulande vor allem eines: unübersichtlich. Es gibt keine staatlich anerkannte Hochschule, keinen Bachelorabschluss, keine einheitlichen Qualitätsstandards. Die wenigen privaten Schulen unterscheiden sich stark in ihrem Profil, eine verlässliche Vorbereitung auf den Beruf bieten sie Kaum. Eine umfassende Ausbildung mit viel Bühnenpraxis, wie sie etwa in England oder Deutschland angeboten wird, fehlt. Kooperationen mit etablierten Bühnen oder professionellen Tanzschulen sind selten. Und einen Musical-Jazz-Tanzkurs sucht man vergeblich.
Auch hier liegt ein Grund dafür in der fehlenden Musical-Tradition der Schweiz. Die meisten Produktionen kommen als Tourshows aus dem Ausland. Professionelle Schweizer Produktionen, die auch lokal casten, sind selten. Die wenigen Festivalbühnen wie die Thuner Seespiele arbeiten mit projektbezogenen Casts. Nachwuchstalente haben kaum die Möglichkeit, sich kontinuierlich zu entwickeln.
Der Zugang zur Branche verläuft unstrukturiert. Es fehlen öffentliche Auditions und Castingplattformen, klare Wege in die Branche, wie man sie etwa in Deutschland findet. Wer es dennoch versucht, muss sich sein Netzwerk oft selbst erarbeiten, oder hoffen, durch Zufall zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Der Weg ins Ausland ist daher weniger eine Entscheidung als eine Notwendigkeit. Nicht nur wegen den Ausbildungsmöglichkeiten, sondern auch, weil es dort überhaupt einen Markt gibt. Was Zürich nicht bietet, holen sich viele anderswo.
So auch Nia Feldmann. Die 20-Jährige hat sich in der Schweiz umgeschaut und Erfahrungen gesammelt. Doch nun wagt sie den Weg ins Ausland.
Der nächste Auftritt
Produktionen wie Billy Elliot zeigen, was möglich ist. Zürich hat das Publikum, das Interesse, und auch das Talent. Doch was fehlt, sind die langfristigen Strukturen: Ausbildung, Förderung, Bühnen, Perspektiven, Mut. Viele, die in der Schweiz aufwachsen, beginnen früh mit Tanz oder Gesang, spielen in Schulmusicals oder Laienproduktionen, verlieren ihren Traum dann aber spätestens nach der Matur. Wer bleibt, muss kämpfen. Wer geht, hat anderswo Chancen.
Die Schweiz investiert in klassische Musik, in Oper, in Theater. Doch Musical fällt oft durchs Raster. Dabei ist es gerade die Kunstform, die viele junge Menschen emotional erreicht. Die Kunstform, die sie auf die Bühne bringt, bevor sie wissen, wie man eine Arie interpretiert. Musical ist nicht weniger wert. Aber es wird momentan noch weniger ernst genommen.
Ob Zürich eines Tages zur Musical-Hochburg wird, entscheidet sich nicht am Applaus. Sondern an der Frage, was danach kommt. Das nächste Team. Die nächste Produktion. Das nächste Kind, das im Publikum sitzt und denkt: «Das will ich auch.»