Lebensnotwendig und doch unsichtbar: Die Blutversorgung in der Schweiz
Blut steckt in uns allen. Und doch denken wir selten darüber nach. Für gesunde Menschen ist es einfach da, unbemerkt. Für andere bedeutet es Leben oder Tod. Zwei Betroffene erzählen, unter welchen Umständen sie auf Fremdblut angewiesen waren und warum Blutspenden alles andere als selbstverständlich sind.
Autorin: Julie Schulhofer
Titelbild: Vorratsschrank der Bluteinheiten aus der Transfusionsabteilung im Inselspital Bern. Bildquelle: Julie Schulhofer
“Ich muss ein- bis zweimal im Jahr eine Bluttransfusion bekommen, weil mein Körper zu wenig Eigenblut produziert”, sagt Patrik Aegerter. Der 44-Jährige wohnt in der Nähe von Thun, BE. Einmal im Monat fährt er in das Inselspital Bern zur Kontrolle seiner Nierenwerte. Vor zwölf Jahren bekam er eine Niere transplantiert. Doch das Organ funktioniert nur eingeschränkt. Deshalb leidet Aegerter an einer chronischen Blutarmut. Seine roten Blutkörperchen werden schneller abgebaut, als der Körper sie nachbilden kann. Wenn seine Blutwerte zu tief sinken, ist eine Transfusion nötig. “Das spürt man nicht, wenn sie das Blut reinlassen. Während des Prozesses nicht und auch danach nicht”, sagt Aegerter.
Mit sechs Jahren wird bei Patrik Aegerter Diabetes diagnostiziert. Über Jahre hinweg verschlechtert die Krankheit seine Niere. 2013 unterschritt das Organ dann den gesunden Wert. Als Folge muss Aegerter zur Dialyse. Das ist die “Blutwäsche ausserhalb des Körpers”, wie das Universitätsspital Zürich schreibt. Dabei wird das Blut durch eine Maschine geleitet, gereinigt und dem Körper wieder zugeführt. Die Dialyse ersetzt die natürliche Filterfunktion der Nieren. In der Regel dauert eine Sitzung drei bis fünf Stunden. Und das mehrmals pro Woche. Die Nieren haben zur Hauptaufgabe, das Blut zu filtrieren und es von Schadstoffen zu befreien. Zudem reguliert eine gesunde Niere den Blutdruck sowie die Bildung von neuen roten Blutkörpern.
“Ich hatte echt Glück, wenn man das so nennen kann.”
Patrik Aegerter, Organempfänger
Herzinfarkt als Wendepunkt
Während elf Monaten pendelt Aegerter dreimal wöchentlich zur Dialyse und wurde auf die Warteliste gesetzt, um eine neue Niere zu bekommen. In dieser Zeit erlitt er einen Herzinfarkt. “Ich hatte echt Glück, wenn man das so nennen kann”, sagt er. Glück sei es gewesen, weil er durch die akute Verschlechterung seiner Gesundheit auf der Warteliste nach oben rutschte. Nur drei Monaten nach der Anmeldung erhält er eine Spenderniere. “Andere warten jahrelang“, erzählt er. Zum Vergleich: gemäss Swisstransplant beträgt die Wartezeit für Nierenempfänger:innen in der Schweiz durchschnittlich knapp drei Jahre.
Interview mit Franziska Kellenberger, Leiterin Marketing und Kommunikation bei Blutspende SRK Schweiz AG
Franziska Kellenberger gibt Auskunft über die Blutversorgung in der Schweiz und wie sich die Spendenbereitschaft verändert. Sie erklärt, wie das Blut gehandhabt wird und wer von den Spenden profitiert.
Die Spendenbereitschaft hat in den letzten zwei Jahren stetig abgenommen. Was passiert, wenn es zu wenig Blutspenden gibt?
Das kommt in der Schweiz zum Glück fast nicht vor. Jede Blutspenderegion rechnet, wie viel Blut benötigt wird, und sie sind dann selbst verantwortlich, dass sie die Lagerbestände entsprechend füllen mögen. Es gibt aber immer wieder Engpässe, besonders während der Grippezeit oder um Weihnachten herum, da sind immer viele Personen krank. Oder im Sommer gibt es oft auch ein Loch, weil viele Leute weg sind, sich anders beschäftigen, als spenden zu kommen oder dann auch gesperrt sind, weil sie Länder mit erhöhtem Infektionsrisiko besucht haben. Wenn der Lagerbestand kritisch ist, können die Blutspendezentren entsprechende Massnahmen ergreifen.
Welche Massnahmen ergreifen sie in solchen Fällen konkret?
Die Spendezentren haben einerseits die Möglichkeit, ihre Spender:innen direkt aufzubieten, wenn man merkt, dass eine Blutgruppe knapp vorhanden ist. Dann erhalten die Spender:innen ein Mail oder eine SMS, dass ihre Blutgruppe besonders gefragt ist. Andererseits können sie über Social Media und über ihre Webseite einen Aufruf starten. In besonders prekären Situationen können auch die Medien angegangen werden. Das funktioniert meistens sehr gut, ist aber schwer kontrollierbar, wer alles spenden kommt. Es muss immer gut ausbalanciert werden, dass wir genug Blut kriegen, aber auch nicht zu viel haben.
Können Sie eine Aussage dazu machen, weshalb die Spendenbereitschaft abgenommen hat?
Ich denke, es liegt an vielen verschiedenen Faktoren. Man merkt den Generationenwechsel. Damit gehen andere Lebenshaltungen und Lebenseinstellungen einher. Die jüngeren Generationen sind eher altruistisch eingestellt. Sie spenden zwar, aber kommen danach nicht regelmässig vorbei. Der Altersdurchschnitt der Spender:innen, die immer wieder spenden kommen, ist etwa bei 43 Jahren.
Wofür werden die Blutspenden eingesetzt?
Hauptsächlich benötigen Krebserkrankte Blutspenden. Solche Personen sind regelmässig auf Fremdblut angewiesen. In den Spitälern brauchen sie die Einheiten bei Unfällen oder bei Operationen, wo der oder die Patient:in viel Blut verliert.
Was geschieht mit dem Blut unmittelbar nach der Blutspende?
Das Blut wird vor Ort erstmal gekühlt gelagert und dann ins Labor transportiert. Innerhalb von 24 Stunden nach der Spende wird das Blut in die drei Bestandteile aufgeteilt. Während der Blutspende werden auch mehrere kleine Reagenzgläser befüllt und diese testen die Zentren dann auf Hepatitis-Erkrankungen oder ob diese HIV-positiv sind. Die drei Bestandteile werden unterschiedlich gelagert, darum ist es wichtig, diese möglichst bald zu trennen und fachgerecht zu versorgen. So kann die Haltbarkeit, die je nach Bestandteil zwischen sieben bis 42 Tage variiert, optimal herausgeholt werden.
Was passiert mit dem Blut, welches die Haltbarkeit überschritten hat?
Dank der guten Planung der Regionen und der Spitäler müssen wir fast kein Blut wegwerfen. Nur etwa ein bis 1.5 Prozent der gespendeten Menge läuft ab. Die abgelaufenen Beutel werden dann fachgerecht entsorgt.
Wie findet man heraus, welche Blutgruppe man selbst hat?
Entweder beim Hausarzt, wenn man sein Blut gibt und untersuchen lässt. Dann findet man heraus, welche Blutgruppe man hat. Oder eben durchs Blutspenden in einem der Zentren oder bei mobilen Blutspendeaktionen. Sonst hat man eigentlich keine Möglichkeit, das herauszubekommen.
Wenn ich operiert würde und ich meine Blutgruppe nicht kenne, was machen die Chirurg:innen dann, wenn sie mir Blut verabreichen müssen?
Wenn die Blutgruppe bei einer ungeplanten Operation nicht bekannt ist, werden im ersten Moment immer ein oder zwei Einheiten vom 0 negativ gegeben. Das ist die Universalblutgruppe, die mit allen anderen kompatibel ist. Gleichzeitig wird von Ihnen Blut genommen und im Labor findet man innerhalb kurzer Zeit heraus, welcher Blutgruppe Sie angehören und ab da werden die entsprechenden Einheiten verwendet. 0 negativ ist zwar der Alleskönner unter den Blutgruppen, aber leider auch die seltenste, deshalb müssen wir sparsam damit umgehen.
Blut ist nicht künstlich ersetzbar
Es gibt keinen Ersatz für menschliches Blut. Damit Menschen wie Patrik Aegerter durch Blutkonserven überleben können, braucht es ausreichend Spenderinnen und Spender. In der Schweiz spenden rund 200’000 Personen regelmässig Blut. Laut Blutspende SRK werden täglich bis zu 700 Blutspenden benötigt. Diese 700 Bluteinheiten beinhalten 315 Liter. Mit dieser Menge können zwei Badewannen gefüllt werden. Die gespendeten Konserven kommen hauptsächlich Unfallopfern, Krebspatient:innen und Frauen mit schweren Geburtskomplikationen zugute.
Spendebereitschaft in der Stadt
Um herauszufinden, wie es um die Spendebereitschaft in der Stadt Bern steht, wurden Passantinnen und Passanten im Alter von 24 bis 72 Jahren befragt. Das folgende Audio gewährt Einblick in ihre persönlichen Beweggründe, weshalb sie spenden oder warum nicht. Ein kurzer, aber ehrlicher Querschnitt durch Berns Haltung zum Blutspenden.
Bei einer Blutspende werden rund 500 Milliliter entnommen. Innerhalb von 24 Stunden wird das gespendete Blut getestet, aufbereitet und in drei Komponenten getrennt: Plasma, rote Blutkörperchen und Blutplättchen. Das Plasma dient unter anderem zur Herstellung von Medikamenten für Menschen mit Autoimmunerkrankungen. Rote Blutkörperchen werden bei Operationen oder bei Patient:innen mit Blutarmut eingesetzt. Die Blutplättchen wiederum helfen Erkrankten mit Leukämie, deren eigene Produktion gestört ist.
Wenn die Operation schief läuft
Man stelle sich vor, man hat die seltenste Blutgruppe von allen und muss während eines Routineeingriffs unerwarteterweise Blut bekommen. Das ist Anja Glauser passiert. Sie hatte vor rund zwei Monaten eine geplante Operation. “Der Eingriff wäre recht einfach und kurz gewesen. Während der Operation habe ich jedoch viel Blut verloren und musste notfallmässig in ein anderes Spital verlegt werden und Blut bekommen”, erzählt die 42-Jährige. Sie ist vierfache Mutter und wohnt in der Nähe von Solothurn, BE. “Ich war voll narkotisiert und weiss nicht genau, was passiert ist”, sagt sie. “Aber ich vermute, dass dabei ein Schnitt in die Aorta gegangen ist. Die Ärzte sagen einem so etwas natürlich nicht direkt.”

Was zuerst ein harmloser Eingriff war, wurde für Anja Glauser zum Albtraum. Als sie aufwachte, lag sie in einem ganz anderen Spital. “Ich war am Anfang gar nicht aufnahmefähig. Ich habe nicht begriffen, was passiert ist.” Erst nach und nach wurde ihr erklärt, was der Grund für die plötzliche Verlegung war. Ihr war zuerst nicht bewusst, wie ernst die Lage gewesen sei. Wäre etwas schiefgegangen, hätte Anja Glauser nicht mehr zu Mann und Kindern nach Hause gehen können.
“Ich empfinde Dankbarkeit, aber auch Frust”
Anja Glauser, Mutter und Fitnessinstrukteurin
Glauser darf nach dem Eingriff nichts Schweres mehr heben. Ihr jüngstes Kind kann sie während der Regenerationszeit nicht tragen. Sie fühlt sich oft schwach und energielos. Zwar ist sie dankbar, dass alles glimpflich verlaufen ist, aber sie ist auch frustriert: “Es hätte nicht sein müssen”, sagt die Mutter. Sie führt ein eigenes Fitnessstudio. Dort unterrichtet sie Tanzlektionen und bietet Krafttrainings an. Wann sie wieder arbeiten kann, ist unklar. “Ich habe Mühe, mich still zu halten”, erzählt sie.
Die Geschichten von Anja Glauser und Patrik Aegerter zeigen, wie entscheidend Blutspenden im medizinischen Alltag sind. Glauser hätte ihre vier Kinder vielleicht nie wieder gesehen. Aegerter könnte ohne regelmässige Bluttransfusionen seinen Alltag nicht bewältigen.
Blut kann nicht künstlich hergestellt werden. Und es kann auch nicht zu lange auf Vorrat gelagert werden. Es braucht Menschen, die regelmässig spenden, damit im Notfall genug vorhanden ist. Was für viele ein kleiner Aufwand ist, bedeutet für andere grosse Wirkung. Und sogar ihr Leben.

Julie Schulhofer studiert im 4. Semester Kommunikation & Medien mit Vertiefung Journalismus an der ZHAW in Winterthur. Sie liebt gutes Storytelling in jeder Form: als Ton, Bild oder Text. Mit einem Gespür fürs Storytelling, einer Leidenschaft für Public Speaking und einem breit gefächerten Interesse begeistert sich Julie für die Geschichten anderer Menschen.