Graffland: Wie ein Klärwerk zum Graffiti-Paradies wurde
Wo einst Abwasser gereinigt wurde, sprudelt heute Kreativität. Das Graffiti-Zentrum ist nicht das erste Kuriosum in der ehemaligen Kläranlage ARA Glatt. Dort strahlten auch schon Oldtimer-Müllwagen mit Emus um die Wette.
Autor: Reto Schlatter
Titelbild: Der alte Hippiebus war am Eröffnungsweekend beliebt unter Sprayerinnen und Sprayern. Mindestens acht Schichten Farbe erhielt er laut Yassin Tair. (Bild: Reto Schlatter)
In Opfikon steht neuerdings die wohl bunteste Kläranlage der Schweiz. Anfang Mai öffnete hier nämlich das «Graffland» seine Türen, ein Zentrum für die Spraydosen-Kunst. Auf dem Areal der ehemaligen Kläranlage ARA Glatt in der Nähe des Glattparks ist ein richtiges Graffiti-Paradies entstanden.
Das weltweit einzigartige Graffiti-Zentrum
Mit einem 6000 Quadratmeter grossen Areal, über 2500 Quadratmetern Fläche zum Sprayen, hauseigenem Dosenshop und einem Café ist das Graffland einzigartig. «So ein Gesamtkonzept, wie wir es hier anbieten, gibt es weltweit nicht», sagt Till Boller, Vizepräsident von Farben für Zürich, dem Verein hinter dem Graffland. Meistens seien Sprayerinnen und Sprayer allerhöchstens erlaubt oder geduldet, erklärt er, im Graffland hingegen liegt der Fokus auf den Kunstschaffenden.
Zwei grosse Rondelle, die früher als Klärbecken dienten, bieten auf über 250 Laufmetern Platz für neue Graffiti-Kunst. In der ehemaligen Gebläsehalle des Klärwerks finden Ausstellungen und Events statt. Dank Hebebühnen können auch an den hohen Aussenwänden Kunstwerke entstehen. «Von der blutigen Anfängerin bis zum absoluten Vollprofi sollen im Graffland alle zum Zug kommen», sagt Boller. Dafür gibt es Übungswände und Beginner-Workshops, die das Graffiti-Zentrum selbst anbietet.
Wer die Wände sonst nutzen möchte, kann sich vor Ort kostenlos anmelden und erhält ein passendes Wandstück zugewiesen. Der Kreativität der Kunstschaffenden wird im Graffland fast keine Grenzen gesetzt. Verboten sind lediglich Fussball- und Hockeygraffiti sowie parteipolitische oder diskriminierende Motive.
Von Mittwoch bis Sonntag hat das Graffiti-Zentrum geöffnet. Die Kunstwerke, die im Graffland entstehen, werden laufend übermalt, um Platz für neue Spraydosen-Kunst zu schaffen. Verloren gehen die Gemälde aber nicht. Jedes Werk wird fotografiert und kriegt einen Eintrag im «Guestbook» auf Instagram und der Website. Über 600 Einträge gibt es bereits im «Guestbook» – viele davon entstanden während des grossen Eröffnungsfests Ende April.
Ein Ostergeschenk für die Street-Art-Szene
Am Osterwochenende wurden in Opfikon nicht nur Eier, sondern auch mehr als 2500 Quadratmeter Wandfläche im Graffland bemalt. Über 100 Kunstschaffende aus der ganzen Welt verliehen dem Graffiti-Zentrum während der dreitägigen Eröffnungsfeier einen neuen Anstrich. Mehr dazu im Video:
«Wir haben gehofft, den Effekt auszulösen, dass sich die Leute mit den bildenden Kunstschaffenden auseinandersetzen», sagt Yassin Tair, Präsident von Farben für Zürich. Dies sei mehr als gelungen. «Viele Besucherinnen und Besucher der ersten beiden Tage haben am Ostermontag nochmals vorbeigeschaut, um zu sehen, was entstanden ist.»
Das Oldtimer-Museum und der Emu-Zoo
Wo heute die bunteste Kläranlage der Schweiz steht, strahlten einst Oldtimer mit Emus um die Wette. 2017 erlangte das heutige Graffland-Areal unrühmliche Bekanntheit im Zuge der ERZ-Affäre. Ein ehemaliger Direktor von Entsorgung und Recycling Zürich soll auf dem Gelände der 2001 stillgelegten Kläranlage ARA Glatt unter anderem ein Oldtimer-Museum und einen Kleinzoo für die australischen Laufvögel errichtet haben lassen.
Die frühere Gebläsehalle des Klärwerks wurde zu einem Privatmuseum für alte Müllwagen, Sportplatzwalzen und Strassenschwemmwagen umfunktioniert. Nicht weit entfernt vom Oldtimer-Museum hausten damals fünf Emus auf dem ERZ-Gelände. Von den 17 Oldtimern wurden 15 versteigert, ein Fahrzeug der Marke Berna und ein «Tribelhorn» blieben im Besitz der Stadt, da sie einen Bezug zu Zürich hätten. Auch die fünf Emus fanden ein neues Zuhause.
Das Areal stand danach jahrelang leer, bevor ihm mit dem Graffland neues Leben eingehaucht wurde.

Der lange Weg der Dosendealer
Zum Zeitpunkt des ERZ-Skandals 2017 stand das Projekt von Tair und Boller noch in Seebach und hiess «Dosendealer». Ursprünglich war die Idee, Spraydosen über einen Onlineshop zu verkaufen. Bald entwickelte sich diese weiter: Dosendealer sollte ein Ort werden, wo Kunstschaffende Spraydosen kaufen und diese gleich ausprobieren können.
So entstand 2016 das «Kreativzentrum Dosendealer» auf dem Stierli-Areal, einer ehemaligen Eisenfabrik in Seebach. Mit viel Freiwilligenarbeit verwandelten die Dosendealer die alte Fabrikhalle: Sie zogen fünf Meter hohe Holzwände ein, bauten eine Galerie und richteten Ateliers ein. Das Kreativzentrum wurde zum Graffiti-Hotspot der Schweiz, doch die Angst vor einer Kündigung blieb, weil sie jeweils nur befristete Mietverträge erhielten.
Ende 2018 war es dann so weit und die Dosendealer mussten das Feld räumen. Die Eigentümerin, die Stierli Real Estate AG, wollte auf dem Areal ein Zollfreilager für Kunst bauen. Das Art Center 468, wie es heissen sollte, existiert bis heute nur auf Papier.
Die Suche nach einem neuen Ort erwies sich als äusserst schwierig. Dank Schützenhilfe aus der Politik wurde noch 2018 ein Postulat eingereicht, in dem der Stadtrat aufgefordert wurde, für das Projekt eine Ersatzliegenschaft bereitzustellen. Lange sah auch dieser Versuch erfolglos aus – bis Tair vor drei Jahren einen Anruf der Stadt erhielt und erfuhr, dass ein neuer Ort gefunden wurde. Der neue Ort: die Kläranlage ARA Glatt.






Doch bis aus der alten Kläranlage das Graffland wurde, war noch eine Menge zu tun. Freunde, Vereinsmitglieder, alle packten beim Umbau mit an. Zehn Tonnen Moos wurden aus den zwei runden Klärbecken entfernt, bevor sie mit Dächern, Treppen und Lichtanlagen ausgestattet wurden, sodass auch bei Regen und Nacht gesprayt werden kann. Auf dem jetzigen Hauptplatz ging es bis im Januar noch sieben Meter in die Tiefe. Während drei Wochen spielten Tair und Boller Lotsen für die rund 700 Lastwagen, welche Kies und Bauschutt zum Auffüllen der rechteckigen Klärbecken brachten.
Finanzielle Unterstützung für den Umbau gab es durch den Lotteriefond des Kantons, durch die Stadt Zürich als Vermieterin, aber auch aus dem Privatvermögen von Tair und Boller.
Keine Angst vor illegalen Sprayereien
Im nördlichen Teil der ehemaligen Kläranlage steht schon seit einigen Jahren der «Spielraum ARA Glatt», ein von der Stadt Opfikon betriebener Spielplatz. Das Graffland hat an denselben Tagen geöffnet wie der Spielraum und bietet ein neues Kulturangebot – auch für Kinder und Jugendliche.
Roman Schmid ist Stadtpräsident von Opfikon. Im Gespräch erzählt der 40-Jährige, wie er in Zukunft mit dem Graffland zusammenarbeiten will und warum er keine Angst vor zusätzlichen illegalen Graffitis hat.

Stadtpräsident Opfikon
Bild: Facebook
Auf dem Graffland-Areal gibt es ausserdem ein Café zur Verpflegung. Es ist das einzige im gesamten Opfikerpark und soll auch für die Bevölkerung des anliegenden Glattparks einen Anreiz bieten, das Graffiti-Zentrum zu besuchen. Sowohl bei den Spraydosen wie auch bei der Verpflegung gilt aber kein Konsumzwang, beteuert Till Boller: «Wir wollen keine Person ausschliessen anhand ihrer sozialen Herkunft oder ihrem Kontostand.»
Style-Polizei auf Patrouille
Südlich angrenzend zum Graffland steht das «Bildungszentrum Blaulicht» der Stadt Zürich. Dort werden Rettungsdienste, Feuerwehr, Zivilschutz und die Polizei aus- und weitergebildet.

Ein Polizeifahrzeug steht auch im Graffland auf Platz – das der «Style-Polizei». Diese klärt die «Verbrechen des schlechten Geschmacks» auf und ist in einem alten Golfkart unterwegs, mit orangen Fahrzeugstreifen, ganz nach dem Vorbild der Stadtpolizei. Yassin Tair und Till Boller sorgen seit Anfang Mai im Auftrag der Style-Polizei für Farbe und Ordnung auf dem Graffland-Areal.
Angehender Journalist mit dem Blick fürs Unentdeckte. Hinter jeder Hauswand wartet eine Story – sei es in verlassenen Orten oder ungewöhnlichen Nachbarschaften. Immer schön aufpassen! Die besten Geschichten lauern da, wo keiner sucht.