Inland

Junge Motorradfahrer: «In diesem Alter denken viele, sie seien unverwundbar»


Die Unfallzahlen von jungen Motorradfahrer steigen seit einigen Jahren kontinuierlich an. Wieso ist das so? Eine Suche nach Antworten.

Autorin: Natacha Schmassmann
Titelbild: Viele Motorradfahrende würden ihre Alltagsprobleme beim Fahren vergessen. Bildquelle: Midjourney/Natacha Schmassmann

«Ich hörte Bremsen quietschen und dann ein Knall», erzählt Fabian. Als er sich umdrehte, sah er das zerstörte Motorrad und Lukas einige Meter davon weg am Boden. Danach, so sagt er, habe er das Zeitgefühl verloren.

Die Suche nach dem Limit

Der 28-jährige Lukas wuchs in einem kleinen Dorf auf. Seine Faszination für Geschwindigkeit und alles, was einen Motor hat, hatte er bereits als Kind. Damals durfte er im Sommer auf dem Roller seines Vaters mitfahren. Bereits vor seinem 18. Geburtstag kaufte sich der heutige Informatiker sein erstes eigenes Motorrad. Eine Supersportler der Marke Suzuki, die für sportliches Fahren gebaut wurde. Aufgrund der Führerscheinbestimmungen musste er jedoch ihre Leistung drosseln. Die blau, weiss und rote Maschine habe ihm aber optisch besonders gut gefallen. 

Lukas beschreibt das Motorradfahren als entspannend oder gar meditativ: «Für einen Moment waren alle meine Probleme gelöst», erzählt er. Dabei sei er immer fokussiert gewesen: «Ich war immer zu 100 Prozent bei der Sache.» Er habe beim Fahren sein Limit gesucht, wobei ihm die Schräglage in Kurven am meisten Spass gemacht habe.

«Ich hatte bereits am Morgen ein ungutes Gefühl»

Diesen Spass suchte Lukas auch an einem sommerlichen Samstag vor bald zehn Jahren. Er verabredete sich mit seinem gleichaltrigen Freund Fabian, um einige Videos vom Motorradfahren aufzunehmen. Da Fabian zu dieser Zeit noch keinen Führerausweis hatte, fuhr er bei Lukas mit. Für diesen Text wurden beide Namen geändert, damit keine Rückschlüsse auf die beteiligten Personen gezogen werden können. Rückblickend erzählt Lukas: «Ich hatte bereits am Morgen ein ungutes Gefühl.» Dieses sollte sich bestätigen.

Die beiden fuhren die ihnen bekannte Strecke am Thunersee vor dem Filmen einmal ab, um nach Polizei oder potenziellen Hindernissen Ausschau zu halten. Danach setzte Lukas seinen Freund an einem kleinen Parkplatz direkt neben der 80er-Strecke ab und fuhr los. Dann geschah der Unfall. Ein abbiegendes Auto übersah Lukas und kollidierte mit ihm.

Durch seinen Motorradunfall veränderte sich das Leben von Lukas von der einen auf die andere Sekunde. Bildquellen: Midjourney/Natacha Schmassmann

Ein Notarzt, der zufällig in der Nähe war, übernahm die Erstversorgung von Lukas. Später traf eine Ambulanz am Unfallort ein und dann ein Helikopter. Dieser flog ihn in das nächstgelegene Spital. Fabian habe sich dabei machtlos gefühlt und allmählich sei ihm bewusst geworden: «Jetzt ist ein richtiger Scheiss passiert.»

Die Unfallzahlen bei jungen Männern steigen

Im vergangenen Jahr wurden zwei Drittel der Motorradunfälle von dem Fahrer selbst verursacht. Die Zahlen des Bundesamts für Verkehr (ASTRA) zeigen ebenfalls, dass davon die meisten Unfälle jungen Fahrern im Alter von 18 bis 24 Jahren widerfahren. Davon sind 80 Prozent Männer. Dazu kommt, dass diese Fälle in den letzten vier Jahren kontinuierlich angestiegen sind.

Unfälle mit Personenschaden mit mindestens einem Motorrad mit Motorrad-Lenkenden als Hauptverursacher:in in der Altersgruppe 18-24 von 2021 bis 2024

Quelle: ASTRA

Als häufigste Unfallursache registrierte das ASTRA dabei das Nichtanpassen an die Linienführung. Das heisst, dass die Motorfahrenden die Kurven nicht in der Ideallinie fahren und dadurch im schlimmsten Fall ab der eigenen Spur kommen. Als zweithäufigster Grund folgt momentane Unaufmerksamkeit. Das resultierte in den meisten Fällen in Schleuder- oder Selbstunfällen.

Dem langjährigen Fahrlehrer Duschko Jaramaz gehört die Fahrschule «Moove» in Bülach. Der 55-Jährige sieht für die steigenden Unfallzahlen bei jungen Fahrern vor allem die fehlende Verkehrserfahrung als Grund. Im Audiobeitrag präsentiert er einen Lösungsvorschlag.

Duschko Jaramaz, 55
Fahrschullehrer

Bildquelle: Fahrschule Moove

«Was ist überhaupt passiert?»

Als Lukas im Spital nach einem mehrstündigen Koma wieder zu sich kam, litt er an einem Gedächtnisverlust. An den Unfall und die davor vergangenen Wochen konnte er sich nicht mehr erinnern. Grund dafür war ein schweres Schädelhirntrauma. Ihm sei deshalb auch nicht bewusst gewesen, wieso er dort war. «Was ist überhaupt passiert? Und wieso fassen mich alle mit Samthandschuhen an?», fragte er sich. Auch habe er immer wieder nach seinem Motorrad gefragt. Dann wurde ihm gesagt, dass es zu Hause kein Motorrad mehr gibt. Heute beschreibt Lukas diese Zeit, als wäre er schlafen gegangen und wieder aufgewacht. Dazwischen sei der Unfall passiert. 

Nach der Spitalentlassung musste er in eine Reha-Klinik. Danach war er krankgeschrieben und zuhause: «Ich war ein psychisches Wrack», sagt Lukas. Er hätte nach dem Unfall zu schnell wieder zurück in seinen Alltag wollen. Dazu hätte er mit Depressionen zu kämpfen gehabt. Auch hätte er sich selbst Fragen gestellt, die er nicht beantworten konnte. Beispielsweise, wieso ihm das passieren musste?

«Ich wollte verhindern, dass ich ein Leben lang Angst davor habe»

Die psychischen Folgen seien auch die, die ihn heute noch am meisten belasten. Dazu kommen Schmerzen im Arm, den er damals gebrochen hatte. An den Unfall kann sich Lukas bis heute nicht erinnern: «Eine Zeit lang wollte ich, dass meine Erinnerungen zurückkommen. Jetzt denke ich, es ist besser, dass ich das nicht mehr weiss.»

Er fuhr nach seinem Unfall noch einmal Motorrad auf öffentlichen Strassen: «Ich wollte verhindern, dass ich ein Leben lang Angst davor habe», erklärt Lukas. Danach sei er noch einige Male auf der Rennstrecke gefahren. Fabian machte derweil seinen Motorradführerschein und fuhr einige Monate auf öffentlichen Strassen. Danach wechselte auch er auf die Rennstrecke. Für beide stand dabei die Sicherheit im Vordergrund: «Auf der Rennstrecke kann man nicht von einem Auto abgeschossen werden», sagt Lukas. Trotzdem sei für ihn das Motorradfahren nie mehr dasselbe gewesen.

«In diesem Alter denken viele, sie seien unverwundbar»

Die Leidenschaft für Motorradfahren teilt auch eine Motorradgruppe, die sich im Zürcher Unterland regelmässig für Ausfahrten trifft. Die meisten der jungen Männer hatten bereits Unfälle. Mit dem Motorradfahren aufzuhören, komme für sie aber nicht infrage, wie sie im Videobeitrag erklären.

Fabian sagt heute über den Fahrstil von Lukas: «Er wusste, was er macht.» Deshalb hätten die beiden auch gedacht, dass Unfälle den anderen passieren würden und nicht ihnen. Sie sind sich einig, wieso die Unfallzahlen bei jungen Männern steigen. Viele würden die Strasse als Rennstrecke missbrauchen. Dazu sagt Fabian: «In diesem Alter denken viele, sie seien unverwundbar.»

Natacha Schmassmann ist freie Mitarbeiterin und Kolumnistin für die Limmattaler Zeitung. Aktuell studiert die Medizinische Praxisassistentin Kommunikation und Medien an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

natacha@schmassmann.ch

Bildquelle: Valentin Hehli