Verletzungen, Identitätskrisen, Druck. Beatrice Scalvedi, Gina Zehnder und weitere Athletinnen und Athleten sprechen über das, worüber im Leistungssport selten geredet wird. Eine aktuelle Studie jedoch zeigt: Mentale Gesundheit wird zwar von den Sportverbänden thematisiert, aber noch zu selten ernst genommen.
Autor: Eugen Zehnder Bildbeschreibung: Beatrice Scalvedi galt lange Zeit als eines der grössten Skitalente. Doch dann trat sie aus dem Spitzensport zurück. (Bild: Keystone)
«Bei mir hat sich alles um Sport und Leistung gedreht. Dann war das plötzlich weg. Ich war nicht mehr Beatrice, die Spitzensportlerin. Ich war einfach Beatrice – wusste aber nicht, wer das überhaupt ist», so Beatrice Scalvedi gegenüber SRF. Einige Leistungssportlerinnen und -sportler bekennen sich öffentlich zu ihren psychischen Problemen und fühlen sich dem Druck im Spitzensport nicht mehr gewachsen. So erging es auch der heute 29-Jährigen. 2018 beendete sie ihre Skikarriere mit 23 Jahren, bevor sie richtig beginnen konnte. Und damit ist sie nicht die einzige: Auch Simone Biles aus den USA verkündete bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio ihren Rücktritt von der olympischen Bühne. Grund waren psychische Probleme, unter denen der Turnsuperstar litt. Die Reaktionen der Fans hinterliessen Spuren bei Biles. Drei Jahre später kehrte die 28-Jährige gestärkt nach Paris zurück und spricht heute offen über ihre mentale Gesundheit.
Was bleibt also vom Traum vom Spitzensport, wenn der Kopf nicht mehr mitmacht? Immer mehr Athletinnen und Athleten kämpfen mit psychischen Problemen, ausgelöst durch Leistungsdruck, Verletzungen oder das Gefühl, sich selbst zu verlieren. Und obwohl das Thema inzwischen sichtbar geworden ist, fehlt es vielerorts an konkreten Lösungen.
Ein Forschungsprojekt deckt Schwächen auf
Das Bewusstsein der Relevanz der psychischen Gesundheit im Spitzensport wächst, ist jedoch noch zu wenig verbreitet. Dieser Meinung ist auch Philipp Röthlin. Der Sportpsychologe forscht seit 2010 an der Eidgenössischen Hochschule für Sport Magglingen (EHSM). Er leitet ein Forschungsprojekt, das vom Schweizerischen Nationalfonds SNF unterstützt wird. Es umfasst sechs Studien und untersucht, was die mentale Gesundheit von Schweizer Leistungssportlerinnen und -sportler beeinflusst und wie sie verbessert werden kann.
«Sportverbände unternehmen dagegen zu wenig» Philipp Röthlin, Sportpsychologe
Mentale Gesundheit bedeutet nicht nur das Vorhandensein von Symptomen psychischer Erkrankungen, sondern auch das Wohlbefinden an sich. Gemäss Röthlin hat die erste Studie gezeigt, dass ein Grossteil der Schweizer Spitzensportlerinnen und -sportler von psychischen Problemen betroffen ist, allerdings in einem ähnlichen Ausmass wie die übrige Bevölkerung. «Athletinnen und Athleten haben mit den gleichen Herausforderungen im Leben zu kämpfen wie alle anderen Menschen auch», sagt Röthlin. Ein belastender Faktor für Menschen im Spitzensport sei, dass sie mit sehr hohen Erwartungen konfrontiert seien. Der weit verbreitende Perfektionismus im Leistungssport sei ebenso wenig förderlich. In Bezug auf Verletzungen treten jedoch vermehrt psychische Probleme auf. Jede dritte verletzte Person gab in einer Befragung im Rahmen des Forschungsprojekts an, darunter psychisch zu leiden.
Junge Athletinnen und Athleten sind zudem häufiger betroffen. «Dies ist auch ein Alter, in dem psychische Erkrankungen ihren Anfang nehmen», sagt Röthlin. Soziale Medien hätten diesbezüglich sicherlich einen Einfluss. Der Überfluss an Beiträgen auf unterschiedlichsten Plattformen und der tägliche Vergleich mit anderen Sportlerinnen und Sportler sei nicht gerade förderlich.
Fehlende Massnahmen in den Sportverbänden
«Sportverbände unternehmen dagegen zu wenig», sagt der Sportpsychologe. Massnahmen zum Schutz und zur Förderung der psychischen Gesundheit untersucht die zweite von insgesamt sechs Studien. Bei der Befragung im Rahmen des Forschungsprojekts gab die Hälfte der Experten an, dass das Thema in den Sportverbänden mangelhaft angegangen wird. Einerseits herrscht Uneinigkeit darüber, welche Massnahmen in Sportverbänden überhaupt eingesetzt werden sollen. Andererseits werden viele dieser Massnahmen erst gar nicht umgesetzt, wie die Ergebnisse zeigen.
«Beim Physiotherapeuten kann der Athlet seine Sorgen loswerden» Philippe Walter, ehem. Sportsverbandpräsident
Diese Diskrepanz hinsichtlich der fehlenden Massnahmen zur Förderung der mentalen Gesundheit wird in einem Gespräch mit dem Sportpsychologen Philipp Röthlin und dem ehemaligen Präsidenten des Schwimmclubs Uster, Philippe Walter, deutlich:
Massnahmen zu mentaler Gesundheit von Swiss Olympics
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Massnahmen zu mentaler Gesundheit von Swiss Olympics
Swiss Olympics nimmt das Thema mentale Gesundheit ernst und arbeitet mit der Partnerorganisation SASP «Swiss Association of Sport Psychology» zusammen. Die SASP ist ein Gliedverband der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen und pflegt die Zusammenarbeit mit Sport- und Dachverbänden. Sie bietet sportpsychologische Coachings an, die auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Zudem bietet eine Infografik von Swiss Olympics Informationen und Tipps rund um das Thema «Sport und Psyche».
Familie als «sicheren Hafen»
Ein weiterer Punkt, den Philipp Röthlin hervorhebt, ist der Übergang vom Junioren- in den Elitebereich. Dieser sei besonders schwierig, erklärt der Sportpsychologe. In der Pubertät entwickeln sich junge Athletinnen und Athleten persönlich weiter. Zudem möchten viele eine Lehre abschliessen oder die Matura machen. Und gleichzeitig passiere sportlich sehr viel. Man trainiert mehr, die Leistungsanforderungen steigen. In einer weiteren Befragung stellte sich heraus, dass das direkte Umfeld eine wichtige Unterstützungsquelle ist, aber auch eine Herausforderung sein kann, wenn diese nicht vorhanden ist. Den Eltern käme dabei eine entscheidende Rolle zu. «Wenn jemand so intensiv Sport treibt, betrifft dies das ganze Familien-System», sagt Röthlin. Es sei wichtig, die Rolle der Eltern besser zu verstehen und sie darin zu unterstützten, wie sie ihren Kindern helfen können. Das Elternhaus sollte kein Ort sein, an dem das Selbstwertgefühl junger Athletinnen und Athleten durch Druck hinsichtlich sportlicher Leistung gefährdet wird.
Die Familie sollte daher als «sicheren Hafen» für junge Spitzensportlerinnen und -sportler dienen. Für Gina Zehnder sind ihre Schwestern und ihre Eltern wichtige Bezugspersonen. Gina ist eine Schweizer Eistänzerin. Mit ihrem Eislaufpartner Beda Leon Sieber gewann sie 2023 die Bronzemedaille am Junior Grand Prix Türkei und ist zweifache Schweizer Juniorenmeisterin. Kurz vor dem Wettkampf in der Türkei musste sich die 19-Jährige einer Knieoperation unterziehen. Anschliessend sei es schwierig gewesen wieder den Anschluss zu finden, sagt Gina. Über die Verletzung, den Umgang mit psychischem Druck und ihr Leben neben dem Eis erzählt sie im folgenden Videobeitrag:
«Es gab schon Momente, in denen ich mir selbst Druck gemacht habe»
Gina Zehnder
Die Geschichten von Gina Zehnder, Simone Biles und vielen weiteren Athletinnen und Athleten zeigen: Mentale Gesundheit ist ein fester Bestandteil des Spitzensports. Umso wichtiger ist es, dass Sportlerinnen und Sportler nicht nur für ihre Leistung gesehen werden, sondern als ganze Menschen. Echte Stärke zeigt sich nicht nur im Wettkampf, sondern auch im Umgang mit Belastung, Zweifel und Scheitern. Denn wer im Kopf stark bleiben soll, braucht mehr als nur Disziplin.
studiert Kommunikation und Medien mit Vertiefung Journalismus an der ZHAW in Winterthur. Er interessiert sich besonders für relevante Themen im In- und Ausland, sowie für Sport.