Kultur / Gesellschaft

Wer fördern will, muss fühlen

Die Sommerbar Polenta7000 in Chur zeigt exemplarisch, was junge Kultur kann. Und wo sie an Grenzen stösst. Die Geschichte folgt den Menschen hinter dem Idealismus, trifft eine Förderverantwortliche und fragt: Warum ist Kulturförderung in der Ostschweiz so komplex, und wer darf eigentlich mitgestalten, was Kultur bedeutet?

Autorin: Jill Jäger
Titelbild: Die Polenta versteht sich als dritter Raum: offen, niederschwellig und kollektiv gestaltet. “Du musst gar nichts” ist mehr als ein Leitspruch: Es ist ein Gegenentwurf zu klassischen Kulturorten. (Bild: Jill Jäger)


Ein Dreijähriger mit Holzhammer und ein Hund, der einfach dazugehört. Und ein Hügel, der mehr Aussichtspunkt ist als Wanderung. Eine Woche vor der Eröffnung wirkt das Gelände des Polenta7000 eher wie ein grosses Familienfest. Man kennt sich zwar nicht immer, aber das spielt keine Rolle.

Mittendrin: Mitgründerin Jen Ries, lachend auf einer Holzpalette. “Spielgruppe für Erwachsene” nennt sie das, was hier zusammenkommt. Ein Haufen voller Menschen, die unter der Woche nicht genug Energie loswerden, und am Wochenende freiwillig schuften. Das Projekt ist mittlerweile zu einer Institution geworden. Und das, obwohl (oder gerade weil) es alle Konventionen unterläuft. Kein Konsumzwang, keine Tickets, keine klaren Rollen. “Wir machen einfach. Und plötzlich wollen alle mitmachen”, meint Jen.

Polenta7000 versteht sich als Ort, an dem Kultur sichtbar wird. Was vor fünf Jahren klein begann, zieht heute über drei Monate Menschen aus der ganzen Region an. Vom Daydance bis zur Lesung, vom Zirkustag bis zum Muttertags-Brunch: Die Polenta-Familie wächst, und mit ihr das Angebot. Auch das Know-how im Verein wird grösser: “Niemand von uns war handwerklich besonders fit, aber inzwischen können alle mit einem Bohrer umgehen.”

Im Video erzählt Jen, was sie zur Gründung des Polenta7000 bewegte, und weshalb Kulturarbeit hier oft heisst: alles geben, für keinen Lohn. Zwischen Idealismus, Ehrenamt und familiärem Miteinander entsteht ein Ort, an dem Kulturförderung manchmal ganz anders aussieht, als die Bürokratie es vermuten lässt.

Jen Ries (geb. 1989) ist Filmemacherin, Autorin und Kulturorganisatorin aus Basel. Nach 15 Jahren als international tätige Fotografi, unter anderem für Swiss Magazine, arbeitet sie seit 2018 bei der Produktionsfirma schau. in Regie, Buch und Art Direction. In dieser Rolle realisierte sie unter anderem Werbespots für Sinalco, Geberit und Battery Man.

Als Co-Autorin schrieb sie das Drehbuch der RTR-Serie L’Ultim Rumantsch und verantwortete in den vergangenen Monaten die Postcard-Filme für den Eurovision Song Contest 2025 als Creative Director. Daneben engagiert sie sich als Mitinitiantin von Polenta7000 und Co-Präsidentin des Kulturraumnetzwerks Chur.

Jen lebt und arbeitet seit fünf Jahren in Chur, Graubünden.

Bild: Jen Ries

Die Realität hinter dem Idealismus

Trotz wachsender Strahlkraft bleibt Polenta7000 ein Projekt am Rand – räumlich, strukturell und finanziell. In der Schweiz ist die Kulturförderung Aufgabe von Bund, Kantonen und Gemeinden. Das sorgt für Vielfalt, aber auch zu Komplexität. Laut dem Bundesamt für Statistik flossen 2022Gelder fliessen in etablierte Institutionen: Theater, Museen oder Orchester. Pop- und Jugendkultur erhalten schweizweit nur einen Bruchteil der öffentlichen Mittel.

Und: Die Fördermittel sind begrenzt, wie der politische Spielraum es auch ist. Kultur ist nicht die einzige Aufgabe der öffentlichen Hand. “Man muss auch Schulen, Abfall oder Polizei finanzieren”, sagt Helena Mettler, Kulturbeauftragte der Stadt Chur. “Die Leute fordern oft mehr Geld für Kultur – aber es muss ja irgendwo herkommen.”

Zwischen Ideal und Institution

Wer entscheidet eigentlich, was “förderwürdig” ist? In Chur heisst eine dieser Stimmen Helena Mettler. Leiterin der städtischen Kulturfachstelle. Sie prüft Gesuche, verschickt Absagen und verteilt Hoffnung.

Als sie begann, hatte sie oft Herzklopfen. Jede Entscheidung wog schwer, vor allem jene gegen ein Projekt. “Wenn du hundert Gesuche genehmigst, es das Herz des hundertundersten trotzdem gebrochen, und das war schon heavy”, erinnerte sie sich.

Heute sieht sie ihre Arbeit gelassener. Vielleicht auch, weil sie weiss, wie wenig schwarz-weiss dieses System funktioniert. Ihre Tätigkeit fordert Auseinandersetzung mit Gerechtigkeitsfragen und Erwartungshaltungen. Sei es von der Politik, der Öffentlichkeit oder den Kulturschaffenden selbst. Im Gespräch erzählt sie, wie sie mit der wachsenden Kritik umgeht, worauf es bei Förderentscheiden wirklich ankommt, und weshalb Kulturpolitik mehr ist als eine Budgetfrage.

Audio: Jill Jäger


Helena Mettler (geb. 1980) ist Kulturbeauftragte der Stadt Chur. Seit 2018 leitet sie die Kulturfachstelle, wo sie Kulturschaffende berät, Fördergesuche prüft und die städtische Kulturförderung verantwortet.

Nach einer Erstausbildung als Bandagistin und Tätigkeiten in der Privatwirtschaft studierte sie Philosophie und Geschichte an der Universität Luzern.

Zuvor war sie unter anderem Projektleiterin am Kunstforum Zentralschweiz und Executive Director des Tanzfilmfestivals Luzern.

Helena lebt und arbeitet in Chur, Graubünden.

Bild: philosophie.ch
beenhere

Wusstest du?

Geringe Unterstützung für Pop- und Jugendkultur
In Basel fließen 96 % der Musikfördergelder an klassische Institutionen wie Orchester. Für Sparten wie Electronica, Rap, Jazz, Pop oder Rock bleiben lediglich rund 400’000 Franken übrig.

Prekäre Einkommenssituation von Kulturschaffenden
Laut einer Studie von Ecoplan aus dem Jahr 2021 verdienen etwa 60 % der Schweizer Kulturschaffenden 40’000 Franken oder weniger pro Jahr.
Viele leben somit am oder unter dem Existenzminimum.

Kürzungen bei internationalen Kulturförderprogrammen
Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) hat ihre Förderung von Kulturakteur:innen in der Schweiz ab 2025 um 45 % gekürzt, von jährlich 3,7 Mio. auf 2 Millionen Franken.

Neue Förderansätze im Kanton Zürich
Seit 2024 setzt die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich ein neues Reporting-Formular ein, das neben finanziellen Aspekten auch Hindernisse bei der Entrichtung fairer Gagen thematisiert. Zudem wird ein Beitrag zur gebundenen Vorsorge geleistet, wenn Kulturschaffende nachweisen, dass sie sechs Prozent des Unterstützungsbeitrages in die Vorsorge einzahlen.

Kein Einzelfall

Was in Chur passiert, ist kein Einzelfall. Auch in anderen Teilen der Ostschweiz stemmen sich Kulturinitiativen mit Eigeninitiative, einer guten Portion Energie und ehrenamtlichem Engagement gegen ähnliche Hürden. Das Alte Kino Mels zum Beispiel: Vom Leerstand zum lebendigen Ort für Ausstellungen, Konzerte und Diskussionen. Oder der Krempel in Buchs, der längst mehr ist als ein Veranstaltungssaal: ein offenes Haus für Kultur, Werkplätze und generationsübergreifende Projekte.

Eine Person aus dem Krempel-Team, die anonym bleiben möchte, beschreibt seine persönliche Sicht auf die aktuelle Situation wie folgt:
“Viele junge Menschen ziehen weg, weil sie glauben, hier gäbe es keine kulturellen Perspektiven. Dabei entstehen gerade jetzt spannende Projekte. Für die spannenden Projekte aber, wäre es schön, würden nicht alle kreativen Köpfe wegziehen. Der Weg zur Sichtbarkeit ist ein Prozess, der auf Unterstützung angewiesen ist. Sonst verpufft das Engagement.”

Was diese Orte eint: Sie entstehen nicht aus langer Planung, sondern aus Notwendigkeit. Und sie zeigen, wie sehr Kulturförderung vom Zugang zum System abhängt. Denn was und wie gefördert wird, ist oft keine Frage des Genres, sondern des Know-hows. Wer das Förderwesen nicht kennt, nicht weiss, wie man ein Gesuch schreibt, oder dass man überhaupt eines einreichen darf, bleibt unsichtbar. Das führt nicht selten zu Ungleichheiten, die weniger mit Qualität als mit Strukturen zu tun haben.


Und doch: Es tut sich etwas

Zwischen all den Limitierungen entstehen auch neue Modelle. Das Kulturraumnetzwerk in Chur etwa. Seit Februar 2024 ein Ort für Austausch, Ateliers und spartenübergreifende Ideen. Oder die Newcomer Stages, bei denen junge Acts nicht nur auftreten, sondern auch lernen: Wie stelle ich ein Dossier zusammen? Wie funktioniert Suisa? Wer fördert was?

Das ist genau das, was ich mir immer gewünscht habe – Austausch, Teilhabe und Räume

Helena Mettler, Leiterin Kulturfachstelle Stadt Chur


Nicht alles, aber vieles

Es braucht keine Millionen, um ein kulturelles Ökosystem zu schaffen. Was es braucht, ist Vertrauen, Kontinuität – und Orte, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Denn obwohl viele junge Menschen die Ostschweiz verlassen, weil sie sich mehr kulturelle Vielfalt wünschen, kommen andere zurück.

Was das über Förderung sagt? Vielleicht nur: Wer fördern will, muss fühlen. Muss aushalten, dass Kultur nicht immer in Raster passt. Dass Idealismus sich nicht budgetieren lässt. Und dass Politik oft ein Balanceakt ist: für jene, die Kunst schaffen, und jene, die sie ermöglichen. Kultur ist kein Produkt, das man bestellt. Und manchmal reicht genau das: Ein Ort, an dem man nichts muss, aber alles darf.

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