Zwischen Norm und Identität: Queeres Leben in Luzerner Schulen
LGBTQIA-Jugendliche kämpfen oft mit Unsichtbarkeit, Vorurteilen und dem Gefühl, allein zu sein. Der Luzerner Stadtrat will das ändern – mit konkreten Massnahmen in und ausserhalb der Schule. Doch wie erlebten junge queere Menschen ihre Schulzeit – und was wünschen sie sich von der Politik?
Autorin: Fabienne Troxler
Titelbild: Anja F. und Tamara K. hatten während ihrer Schulzeit keine Berührungspunkte zur LGBTQIA-Community. Sie wünschen sich, dass sich das für zukünftige Generationen ändert. (Quelle: Fabienne Troxler)
Als Anja F. in der fünften Klasse zum ersten Mal Aufklärungsunterricht hatte, wurde viel über Fortpflanzung gesprochen – über Mädchen, Jungen, Verhütung und Menstruation. Queere Identitäten blieben unerwähnt. Homosexualität existierte nur als Schimpfwort auf dem Pausenplatz.
Ein Blick zurück
«Ich hatte lange das Gefühl vom Falsch-sein», sagt Anja F. heute. Sie ist 22, lebt in Luzern und studiert berufsbegleitend Sozialpädagogik. Ihre Partnerin Tamara K. ist ein Jahr jünger, lebt in Bern und studiert Psychologie. Beide besuchten Luzerner Schulen. Zusammen blicken sie auf ihre Schulzeit zurück – ohne LGBTQIA-Angebote oder queere Themen im Unterricht. «Wir hatten zweimal Aufklärungsunterricht, aber queere Personen oder Gender wurden nie thematisiert. Nur schon zu wissen, dass es existiert, hätte mir geholfen», sagt Anja. Der fehlende Raum für Identität äusserte sich: «Der einzige Bezug, den ich zu Homosexualität hatte, war ‚schwul‘ als Fluchwort», sagt Tamara.
Ein Schritt zur Schule der Vielfalt
Nun soll sich das ändern: Die Stadt Luzern plant ein umfassendes Programm für mehr Gleichstellung an Schulen. Unter dem Titel «Ein Schritt zur Schule der Vielfalt», will sie die Lebensrealitäten von LGBTQIA-Jugendlichen sichtbarer machen. Schulen sollen stärker sensibilisieren, Lehrpersonen weitergebildet und queer-freundliche Räume geschaffen werden – innerhalb wie ausserhalb des Klassenzimmers.
Prävention beginnt im Klassenzimmer
Das Paar ist überzeugt, dass frühe Thematisierung entscheidend wäre. Workshops könnten helfen, Vorurteile abzubauen, sagt Tamara: «Wenn etwas nie thematisiert wird, kann man es auch nicht wissen.» Anja ergänzt: «Homophobie wird von der Gesellschaft mit auf den Weg gegeben. Wenn man die Kinder darauf sozialisiert, dass es etwas Normales ist, tragen sie es nach aussen.» Die fehlende Thematisierung queerer Identitäten hat nicht nur gesellschaftliche Folgen, sondern kann auch grosse Auswirkungen auf die mentale Gesundheit haben.
Viermal höhere Suizidversuchsrate
Die psychische Belastung queerer Jugendlicher ist nachweislich höher als bei Gleichaltrigen. Laut einem Forschungsbericht der Hochschule Luzern, der im März 2022 im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit veröffentlicht wurde, ist die Wahrscheinlichkeit eines Suizidversuchs viermal höher als gegenüber der restlichen Bevölkerung. Tamara beschreibt die psychische Belastung so: «Du hast das Gefühl, du bist nicht richtig und dass du allein damit bist. Wenn du mit niemandem darüber sprechen kannst, geht’s dir schlecht».
Diese Interaktive Grafik zeigt das Verhältnis queerer Jugendlichen zu cis-heterosexuellen Jugendlichen. Zudem sind die Suizidversuche prozentual dunkel markiert. Klicken Sie auf die Icons, um mehr zu erfahren.
Gestaltung: Fabienne Troxler , erstellt mit „Genially“ / Textquelle: Ipsos LGBT+ Pride 2023 Global Survey und HSLU Bericht zur Gesundheit von LGBT Personen in der Schweiz
Stadtrat bewilligt flächendeckende Massnahmen
Im November letzten Jahres hat der Stadtrat 285’000 Franken für Massnahmen zur Unterstützung queerer Jugendlicher bewilligt. Diese sollen über zehn Jahre hinweg ausgebaut werden. Das Massnahmenpaket umfasst Workshops für Kinder, Unterrichtsmaterialien, das Anpassen von Formularen und neue Kooperationsformen mit externen Organisationen – darunter auch die Katholische Kirche Luzern. Um erste Massnahmen bereits 2025 umzusetzen, wurde ein Nachtragskredit in Höhe von 51’000 Franken genehmigt. Ziel ist es, Ausgrenzung zu verringern und die Sensibilisierung voranzutreiben.
Im Audiobeitrag sprechen zwei Stimmen aus Politik und Verwaltung über die «Schule der Vielfalt»: Anskar Roth, Co-Leiter der Fachstelle Gleichstellung der Stadt Luzern, erklärt, warum die geplanten Massnahmen ein wichtiger Schritt zu mehr Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen sind.
Chiara Peyer, Grossrätin der Jungen Grünen, betont, weshalb gerade die Schule ein zentraler Ort ist, um junge Menschen für gesellschaftliche Vielfalt zu sensibilisieren.
Quelle: O-Töne: Fabienne Troxler / Hintergrund-Sound: Pixabay.com
«Ich hatte lange das Gefühl vom Falsch-sein»
Für Anja war queeres Leben in ihrer Kindheit und frühen Jugend keine Option. «Ich bin in einem sehr heteronormativen Umfeld aufgewachsen. Frau und Mann – das war einfach normal», sagt sie. Erst später verstand sie, warum sie sich nie mit den Erfahrungen ihrer Mitschüler:innen identifizieren konnte. Tamara war von Beginn an offener gegenüber einem queeren Leben, erinnert sich aber ebenfalls an Hürden: «Als ich bei mir selbst merkte, dass ich queer bin, hatte ich plötzlich dieses Gefühl: Oooh, ehm, komisch – warum?».
Beide erzählen von Erfahrungen, die viele junge queere Menschen teilen: Fragen zur eigenen Identität, das Gefühl des Alleinseins und fehlende Bezugspunkte. Sichtbarkeit ist ein erster Schritt – doch ebenso wichtig sind konkrete Räume für Austausch und Begegnung.
Ein solcher Ort ist die «Milchbar» – ein queerer Jugendtreff, organisiert von der Dachorganisation Milchjugend. Der Treff findet drei bis viermal im Monat im Jugendkulturhaus Treibhaus statt und will queeren Jugendlichen ab 14 Jahren eine sichere Umgebung bieten. Pascal Graber ist Teil des Milchbar-Teams und erzählt wieso, dass es die Milchbar braucht.
Quelle: Fabienne Troxler
Laut einer Studie aus 2022 des Swiss LGBTIQ-Panels fühlen sich Jugendliche nach dem Coming-out besonders durch Freund:innen und andere Mitglieder der LGBTQIA-Gemeinschaft unterstützt. Tamara sagt, dass es beim Austausch mit Leuten aus der Community möglich wäre, über über Erfahrungen zu reden, die Hetero-Personen vielleicht nicht nachvollziehen könnten.
Sichtbar sein – ohne Mutprobe
Auch wenn sich heute beide wohl fühlen in Luzern – öffentlich sichtbar queer zu sein, kann eine Herausforderung bleiben. «Je nach Situation braucht es Überwindung, Händchen zu halten», sagt Tamara. Nicht wegen Angst vor Gewalt, sondern vor Sprüchen und langen Blicken. Anja erzählt: «Jemand hat uns mal so lange angestarrt, bis sie fast in eine Strassenlaterne gelaufen ist». Queere Paare seien im Luzerner Alltag noch immer selten sichtbar. In anderen Schweizer Städten sei das anders: «In Bern finde ich es um einiges angenehmer», sagt Tamara.



Anja und Tamara sind seit knapp einem Jahr ein Paar. (Quelle: Fabienne Troxler)
Wenn aus Offenheit Selbstzweifel wird: Tamara brauchte Zeit, um sich an ihre Sexualität zu gewöhnen. (Quelle: Fabienne Troxler)
Anja wünscht sich einen offeneren Umgang mit LGBTQIA-Themen. (Quelle: Fabienne Troxler)
Was Betroffene fordern
«Ich wünsche mir, dass die Angebote nicht ums Überleben kämpfen müssen», sagt Anja. Sichtbarkeit allein reiche nicht – es brauche strukturelle Unterstützung und langfristige Finanzierung. Vor allem aber: «Ich wünsche mir, dass der Community mehr zugehört wird.»
Es gebe genug Zahlen, genug Berichte und reale Erfahrungen. «Aber es wird zu wenig ernst genommen», sagt Anja. Konkret wünschen sie sich beide ein queeres Café, «So könnte man Gleichgesinnte kennenlernen – das wäre eine grosse Chance für viele», sagt Tamara.
Hilfe und Anlaufstellen
Informationen und Hilfsangebote für LGBTQIA-Jugendliche sowie bei selbstgefährdenden Gedanken sind auf den folgenden Webseiten zu finden.
Hilfe und Beratung zu LGBTQIA-Themen
Anlaufstellen wie die LGBTIQ-Helpline existieren, um jegliche Anliegen und Fragen zu beantworten.
Weitere Angebote sind auf der Website der Stadt Luzern aufgelistet.
Hilfe bei Suizidgedanken
Organisationen wie Telefon 143 Zentralschweiz hören in Krisensituationen anonym und unvoreingenommen zu.
Sie sind rund um die Uhr per Telefon, Mail oder Chat erreichbar.

Ich liebe gute Geschichten – und erzähle sie am liebsten selbst. Seit fünf Semestern studiere ich Kommunikation und Medien an der ZHAW in Winterthur und lerne dort, wie man Inhalte kreativ und professionell vermittelt.